Dr. Christoph Morgner
Präses des Ev. Gnadauer Gemeinschafts-verbandes

Grundlagen Texte
Auszüge aus dem Bericht von Präses Dr. Christoph Morgner, Kassel, vor der Gnadauer Mitgliederversammlung im Februar 2005, die sich anlässlich des Startes des „Zahnrad-Prozesses“

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Pfarrer Rudolf Westerheide
Bundespfarrer des Deutschen
EC-Verbandes in Kassel.
Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern

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Wie junge Christen leben

Die „Jugend von heute“ widersetzt sich hartnäckig allen Versuchen, sie mit einem einheitlichen Etikett zu versehen, denn sie ist aufgesplittert in viele verschiedene und sich ständig verändernde Szenen und Subkulturen. Kleidung, Musikstil und politische Ansichten sind so vielgestaltig wie die Frisuren. Allenfalls die Bezeichnung „Generation der nicht Greifbaren“ lässt etwas vom typischen Flair dieser besonderen Spezies erahnen. Das kann einen allerdings nicht wundern, wenn man bedenkt mit was für einer Welt sie sich arrangieren müssen. Das große Zauberwort lautet Multioptionalität, und ein Blick ins Internet zeigt, dass die Möglichkeiten zu konsumieren, die Freizeit zu gestalten, sich zu bilden und fortzubilden tatsächlich unbegrenzt sind. Als Kehrseite dieses verwirrenden Überflusses mangelt es an Halt, an Hoffnung, an Liebe und an Geborgenheit und die Fixierung vieler Jugendlicher auf materielle Statussymbole wie Handys, Computern und Markenklamotten zeigt den Versuch, die so entstandene Leere zu kompensieren.

Während bis vor wenigen Jahrzehnten die Herausforderung darin bestand, das Überleben zu sichern, drängt sich den Jugendlichen heute eher die Frage auf „Wozu soll ich überhaupt leben und welche Perspektive habe ich?“ Nicht zuletzt daraus erklärt sich eine große Offenheit für Religion und Spiritualität, die sich durch viele der unterschiedlichen Jugendszenen zieht. Dabei suchen die Kinder der Postmoderne allerdings weniger nach Wahrheit und Klarheit als vielmehr nach einem in sich stimmigen, ganzheitlichen Lebensgefühl. Während man 1980 noch vorrangig nach den Inhalten des Glaubens fragte, geht es dem Jugendlichen (und nicht nur ihm) heute mehr darum, wie Glaube sich anfühlt und auswirkt. Wahr ist, was gut tut.

Aus dieser gesellschaftlichen Grundstimmung erklären sich einige Eigenschaften, die wir auch in christlichen Kreisen und besonders bei Jugendlichen wahrnehmen. Diese muss man kennen, ohne sie gleich zu bewerten, um angstfrei auf die junge Generation in unseren Gemeinschaften zugehen und mit ihnen gemeinsam aufbrechen zu können.

Skepsis gegenüber Institutionen

Institutionen machen keinen Spaß, scheinen aktuelle Probleme nicht lösen zu können, geben keine Hoffnung und erscheinen weder relevant noch überlebensnotwendig. Diese Einschätzung gilt für das Arbeitsamt, die Schulbehörde und ebenso für christliche Institutionen. Nur wenn junge Leute spüren, dass es uns selbst nicht um die Aufrechterhaltung einer pietistischen Institution geht, sondern darum, Reich Gottes zu bauen und im Namen von Jesus die Welt zu verändern, können wir ihnen in einem zweiten Schritt konkret die Gemeinschaft als ein mögliches Umfeld anbieten, in dem sie mit ihren Sehnsüchten, Gaben und Visionen Einbettung finden.

Flexibilität und Unverbindlichkeit

Jugendlichen wird dermaßen viel angeboten, dass sie lernen mussten, blitzschnell von einer Sache auf eine andere umzuschwenken und mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Radio hören und gleichzeitig Hausaufgaben machen gehört da noch zu den leichten Übungen. Als Spiegel der Internet-Kultur ist an die Stelle eines geradlinigen ein vernetztes Denken getreten. Wir über Vierzigjährigen lasen ein Buch, begannen mit dem Vorwort und kämpften uns bis zur letzten Seite durch. Die Welt des Internets ist anders: Man springt von Link zu Link, die Welt erschließt sich als Netz von Informationen, in das man hier und da mal rein greift. So entsteht eine neue Art von Allgemeinbildung; man versteht von vielen Dingen zumindest etwas. Als Preis für diese Flexibilität bleiben jedoch Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit vielfach auf der Strecke.

Auch junge Christen sind oft bewundernswert flexibel. Sie können sich schnell umstellen von Spaß auf Ernst, von Bibelarbeit auf Videonacht, von flotten Rhythmen auf Anbetungslieder. Logisch, dass sie ebenso auch eine Haltung der Unverbindlichkeit mit in die Gemeinden bringen, und wir werden sie nicht in ein Korsett wöchentlicher Veranstaltungen einbinden können, das in vergangenen Jahrhunderten entwickelt wurde. Wir müssen gemeinsam Wege finden, Flexibilität und Verlässlichkeit in ein neues, zukunftstaugliches Verhältnis zu bringen.

Konsumfähigkeit und Konsumbereitschaft

Die Multioptionsgesellschaft stellt die Jugend vor eine unendliche Fülle von Angeboten. Da selbst etwas Neues zu machen oder zu erfinden scheint weder möglich noch sinnvoll. Es gibt ja von allem schon zu viel! Vor diesem Hintergrund erscheint das elterliche „denkt euch doch selber mal was aus“ als Einwand gegen einen geplanten Fernsehabend nahezu absurd.

Weil Jugendliche die Fähigkeit entwickelt haben, möglichst viel vom Vorhandenen mitzunehmen, sind auch junge Christen in der Lage, viele christliche Veranstaltungen zu besuchen und fromme Angebote zu konsumieren. Die wirkliche Herausforderung besteht darin, sie vor zu viel christlichem Konsum zu schützen und ihnen Wege zu zeigen, wie sie sich im Namen Jesu aktiv in die Gemeinde einbringen und sich in die Gesellschaft einmischen können.

Verunsicherung und Angst

Trotz aller Flexibilität und Konsumfähigkeit führt die Überfülle der Angebote irgendwann zu einem Gefühl der Überforderung. Nicht nur die Erkenntnis, die meisten Möglichkeiten ungenutzt lassen zu müssen, sondern vor allem der Zweifel daran, wirklich die besten Optionen ausgewählt zu haben, führt zu einem „Defizitstress“. Wer weiß, ob eine der drei versäumten Samstag-Nacht-Partys nicht doch aufregender abläuft als die, zu deren Besuch man sich schließlich entschieden hat?

Es ist daher kein Wunder, dass sich auch junge Christen fragen, ob sie nicht gerade im falschen Jugendkreis sind, in der falschen Gemeinde, in der falschen Veranstaltung, auf der falschen geistlichen Welle. Unsere Aufgabe als Ältere ist es, sie in der Suche zu begleiten und Rückhalt in stabilen Beziehungen zu geben. Beziehungen, die nicht gleich Anspruch auf Mitgliedschaft erheben, aber neugierig darauf machen, wo wir unseren Rückhalt haben.

Suche nach Müttern und Vätern

Unsere Gesellschaft betrügt die Jugendlichen weitgehend um ihre Eltern! Zum einen, weil es kaum noch intakte Familien gibt, zum anderen weil die Elterngeneration sich vielfach weigert, ein erwachsenes Gegenüber zu sein, an dem man sich reiben kann. Der Ring in der Nase war Ausdruck pubertärer Auflehnung und damit gleichzeitig Schrei nach Aufmerksamkeit. Aber statt diesen Schrei zu hören, entrissen die Mütter ihren Töchtern das Instrument der Auflehnung umgehend, um sich selbst damit zu schmücken. Als Folge dieses Jugendwahns sehen Jugendliche da, wo sie ein Vorbild suchen, eine schlecht geratene Kopie von sich selbst!

In dieser Gesellschaft suchen Jugendliche in der Gemeinde umso mehr Mütter und Väter im Glauben, die authentisch und überzeugend leben, was sie sind. Auf jugendlich getrimmte Alte sind dazu keine Alternative und werden eher als peinlich empfunden. Die gleiche Gesetzmäßigkeit gilt auch für die Gestaltung des gemeinschaftlichen Lebens. Darum: Lasst den Jugendlichen ihre Formen, ihre Musik und ihre Lieder ohne sie zu kritisieren aber auch ohne sie gleich für euch zu vereinnahmen und zu imitieren!

Einsatzbereitschaft

Wenn Jugendliche spüren, dass man ihnen echte Alternativen zu ihrer Konsumwelt bietet, lassen sie sich dafür begeistern und sind dann in ihrem Einsatzwillen kaum zu bremsen. Wir dürfen aber nicht versuchen, diesen auf unsere alten Mühlen zu leiten, sondern müssen ihnen große Entfaltungsfreiheit geben. Nur wenn sie heute ihre Projekte im Rahmen einer gemeindlich oder verbandlich organisierten Jugendarbeit in großer Freiheit gestalten dürfen, werden sie vorbereitet und motiviert sein, sich morgen in freier Entscheidung aktiv in die Gemeinschaftsarbeit einzubringen.

Dieses Thema wurde als Vortrag auf der Mitgliederversammlung des Gnadauer Verbandes im Februar 2005 in Bünsdorf abgehandelt. Wichtige Anstöße hat der Autor aus einem Artikel von Volker Gäckle gewonnen: „Wer gewinnen will, muss verstehen“; Aufsatz in „Theologische Orientierung“, Mitteilungen des Albrecht-Bengel-Hauses No.126, April-Juni 2002